Ulrike Hans
Sprachgestaltung in der Waldorflehrer-Ausbildung
Auszug aus dem gleichnamigen Artikel in: Lehrerbildung für Waldorfschulen Beltz-Verlag 2018
Sprechtechnik: Atem, Stimme, Artikulation
Lehrer und Erzieher nehmen in Bezug auf ihre stimmlichen Leistungen unter den Sprechberufen eine Sonderstellung ein. Sie gelten als besonders belastet und sind in hohem Maße anfällig für Dysphonien. Eine tragfähige, belastbare und variabel einsetzbare Stimme ist notwendig, um das Unterrichtsgeschehen wirkungsvoll führen zu können und angenehme und arbeitsfördernde Bedingungen zu schaffen. Solche Bedingungen erleichtern den Schülern das Wahrnehmen und Verstehen des Gehörten. Sind Lehrerinnen und Lehrer hingegen stimmlich auffällig, so hat dies negative Auswirkungen auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen. Diese sind weniger aufmerksam und können die Inhalte schlechter aufnehmen, weiterverarbeiten und erinnern. Darüber hinaus nehmen Schüler gegenüber heiseren Stimmen eine ablehnende Haltung ein. (vgl. Voigt-Zimmermann 2010 S.42-49)
Einer Studie zufolge, die 2003 in Jena, Halle, Heidelberg, Leipzig und Potsdam mit Lehramtsstudierenden durchgeführt wurde, zeigte, dass 40% der getesteten Personen sprachlich auffällig waren, davon 23% mit Auffälligkeiten hinsichtlich der Atmung, 15% hatten Stimmstörungen. (vgl. Lemke et al. 2004 S. 168f)
Da Lehrer Sprechvorbilder sind, sollten sie in Bezug auf Atmung, Artikulation und Stimme einigermaßen ‚gesund’ sein, so dass die unbewusst stattfindende Nachahmung sich positiv auf die Sprache der Schüler auswirkt.
Der Sprechwissenschaftler Baldur Neuber argumentiert in einem Aufsatz zur Professionalisierung der sprechkommunikativen Praxis im Lehramt für die Notwendigkeit einer sprecherischen Schulung:
Stimme und Sprechweise von Pädagogen wirken sich auf die stimmliche und sprecherische Entwicklung von Kindern aus. Lehrer/-innen beeinflussen sprachliche und sprecherische Normvorstellungen, Verhaltensmuster und Entwicklungen, denn sie verkörpern kommunikative Vorbilder, an denen sich Schüler in gewissem Maße orientieren. Lehrer/-innen wirken daher immer, bewusst oder unbewusst, als Multiplikatoren. (Neuber 2007 S.10)
Gute stimmliche Qualitäten und eine saubere, deutlich artikulierte Aussprache sind nicht nur stimmschonend und erleichtern damit dem Lehrenden den Alltag, sie tragen auch wesentlich zur besseren Verständigung mit den Schülern bei. Ihr Fehlen belastet das Unterrichtsgeschehen unnötig.
Ästhetische Vermittlung
Nicht nur für Deutschlehrer ist es notwendig, eine sprechkünstlerische Kultur im Umgang mit Märchen, Geschichten und Episoden, Gedichten oder Szenen zu entwickeln. Für einen belebenden und interessanten Unterricht ist es von großer Bedeutung, dass ein Lehrer erzählen kann. Erzählen bedeutet, so zu sprechen, dass die Zuhörenden in einen Strom sich entfaltender Bilder hineingenommen werden. Bilder, die, von außen angeregt, im Zuhörenden selbst entstehen und sich immer wieder verwandeln dürfen. Mit Bildern sind hier nicht Abbilder gemeint, die schon Vorhandenes stumm und plakativ wieder zeigen. Bilder sind lebendige, geistige Prozesse, die zugleich das Erlebnis und das Denken anregen. Sie sind noch nicht Gedanken oder Begriffe, aber sie regen zum Nachdenken oder zum Bilden von Begriffen an. Ein Märchen enthält nicht nur den Lauf der Handlung, sondern immer auch das Geheimnis der Vieldeutigkeit. Ist die Geschichte nicht durch äußere Bilder festgelegt, so kann jeder die Geschichte in seine eigene Welt integrieren, sie anreichern mit einer inneren Rahmenhandlung, den Personen diese oder jene Eigenschaft zuschreiben. Die Handlung bleibt trotz des erzählten Handlungsstranges offen und gestaltbar und damit auch auf vielen Ebenen interpretierbar. So bleibt die Vielfalt der kindlichen Phantasie erhalten und wird gefördert.
Lehrer, die heute an die Schulen kommen, haben es mit Kindern und Jugendlichen zu tun, deren Leben schon sehr früh von digitalen Medien wie Fernsehen und Computer geprägt wird. Spätestens seit Neil Postman (vgl. Postman 1993) in den achtziger Jahren Auswirkungen des medialen Bilderkonsums auf den Menschen beschrieben hat, und noch deutlicher durch die Publikationen Gerald Hüthers, der zeigt, dass die Gehirnentwicklung des heranwachsenden Menschen abhängig ist von seinen körperlichen und geistigen Aktivitäten, ist einsehbar, wie förderlich Märchen, Geschichten und Erzählungen sind, die nicht vorgefertigt als bunte Bilder übermittelt werden. (vgl. Hüther 2004) Lehrer und Erzieher haben, was die Anregung und Entwicklung von Phantasiekräften betrifft, einen nicht mehr zu leugnenden Bildungsauftrag. Dieser kann von den Medien gar nicht wahrgenommen werden. Denn während digitale Medien vorgefertigte Bilder und fest umrissene Denksysteme liefern, darf das Kind beim Zuhören selbst aktiv werden, um in seiner Phantasie das Gehörte in eigene Bilder zu übersetzen. Der Kindheitspädagoge Rainer Patzlaff beschreibt in seinem Buch ‚Der gefrorene Blick’ den Unterschied so:
Aus den Lauten erwächst das Bild, das die Kinder so entzückt. Dieses Bild aber – das ist für den Erwachsenen höchst wichtig zu wissen – hat eine völlig andere Qualität als das Fernsehbild: Jenes wird als vorgefertigtes Bild von außen auf die Netzhaut geschossen, dieses wird vom Kind aus den bildschaffenden Kräften der eigenen Seele geformt und ist somit eine aktive schöpferische Leistung. Das technisch erzeugte, zwanghaft aufgedrungene Bild legt die innere bildschaffende Kraft des Kindes lahm, und damit auch einen wesentlichen Teil seiner geistig-seelischen Entwicklung. Denn nur aus intensiver eigener Aktivität bilden sich bleibende Fähigkeiten. (Patzlaff 2000 S.122)
Gleichzeitig haben Überlieferungen in Märchen und Epen, der Schatz der Dichtung überhaupt, ein hohes sprachliches Niveau. Ihre poetische Struktur, der Sprechrhythmus und die Kraft der Bilder entfalten eine ganzheitliche Gestalt, die das Kind aufnimmt und verinnerlicht. Der Neurowissenschaftler Gerald Hüther erweitert die Bedeutung des Erzählens am Beispiel der Märchen noch um die Dimension des zwischenmenschlichen Beziehungsaufbaus und der kulturellen Identität:
Märchen, die Menschen einander erzählen, besitzen also eine strukturierende Kraft, die nicht nur einen entscheidenden Einfluss auf die Beziehungsfähigkeit, Kreativität und Vorstellungswelt menschlicher Gemeinschaften, sondern auch auf die Strukturierung neuronaler Verschaltungsmuster und die Herausformung innerer Repräsentanzen (sog. innerer Bilder) im Gehirn der einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaften haben. (Hüther, Internetquelle)
Diese inneren Bilder, vom erzählenden Erwachsenen angeregt und in der Phantasie des Kindes durchlebt, manifestieren sich im Gedächtnis und wirken handlungsleitend im Leben des Menschen weiter. Sie formen Werte und beeinflussen Denken und Handeln auch über die Kinderzeit hinaus. (vgl. Hüther 2004 S.11)
Stilfragen als Fragen der Sprechwirkung
Damit eine Geschichte anregend und bilderzeugend wirken kann, bedarf es der richtigen Erzählhaltung. Der Sprecher muss den richtigen Ton treffen, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. In seinem 1924 gehaltenen Kurs für Schauspieler und Sprecher macht Rudolf Steiner auf die große Bedeutung des stilvollen Sprechens aufmerksam. (vgl. Steiner 2002 S.65ff) Als Hauptmerkmale des Sprechstils bezeichnet Steiner dabei die Berücksichtigung der literarischen Gattungen von Epik, Lyrik oder Dramatik und die Entscheidung, ob etwas mehr erzählend bedächtig, also rezitatorisch, oder impulsiv und affektgeladen, also deklamatorisch gesprochen werden solle. Den richtigen Stil zu finden bedeutet nicht in erster Linie, einer bestimmten literarisch geforderten Ästhetik zu genügen. Vielmehr geht es um die vom Sprecher eingenommene Perspektive zum Inhalt. Entsprechend dieser Haltung wird er mehr rezitatorisch oder deklamatorisch sprechen, wird dadurch den Zuhörenden in seinen Bann ziehen oder die Aufmerksamkeit auf das Geschehen oder das Phantasiebild lenken. Der gewählte Stil ist mit entscheidend darüber, wie das Wort beim Zuhörenden ankommt und wirkt. Da gesprochene Worte viel persönlicher und unmittelbarer wirken als stumm gelesene, sollte der Sprecher wissen, was er bewirken möchte. Dabei reicht es nicht, ganz allgemein Spannung erzeugen zu wollen. Entscheidend für das pädagogische Wirken ist es, welche Art der Spannung erzeugt werden soll. Ein Märchen oder eine Geschichte ist z.B. kein Drama und sollte, zumindest in den unteren Klassen, auch nicht als solches behandelt werden. Es geht nicht darum, beim Kind gruseln, Gänsehaut oder kriminalistische Spannung zu erzeugen. Weder unbeteiligt abstrakt noch sensationsheischend darf ein epischer Text gesprochen werden, soll sich die Ruhe und Kraft des epischen Bildes wirksam entfalten. Das darstellende Erzählen im Unterricht soll beim Zuhören den Raum für eine Anschauung der zu behandelnden Sache öffnen und nicht den Lehrer mit seinen Haltungen und Meinungen in den Vordergrund rücken.
Zu Lernen ist für das Erzählen deshalb die Fähigkeit, sich selbst mit seinen spontanen Affekten und Impulsen zurücknehmen zu können. Alle Subjektivität, alles Interpretieren muss hintangestellt werden zugunsten des in den Worten aufzufindenden Bildes. Diese Zurückhaltung, dieses Freiwerden von dem Drang, alles sofort in Sympathie oder Antipathie zu bewerten oder jedem Satz gleich eine fertige Bedeutung zu unterlegen, ist eine echte Herausforderung für viele Erwachsene. Künstlerisches Üben heißt hier, sich selbst vergessen zu können und in Unbefangenheit einzutauchen in unbekannte Welten, Bilder und Schicksale. Das Unbekannte, Befremdliche einer Erzählung sollte nicht sofort gedeutet und dem eigenen Weltbild angepasst, sondern neugierig erforscht werden. Bei der Ausbildung erzählerischer Fähigkeiten geht es nicht in erster Linie darum, eine bestimmte Methode oder eine Technik zu erlernen. Schöpferische Phantasie lässt sich am Besten schulen, indem man immer wieder die Möglichkeit aufsucht, sie zu betätigen.
Nicht nur beim Erzählen von Geschichten sollten Lehrende lebendig, farbig und differenziert sprechen. Auch im Geschichtsunterricht, in der Zoologie, der Geographie usw., also immer dann, wenn ein Unterrichtsinhalt bildhaft und anschaulich dargestellt werden soll, so dass die Schüler den Inhalt vor ihrem inneren Auge entstehen lassen können, ist das erzählende, bildhafte und bilderreiche Sprechen hilfreich und angebracht. Schüler entwickeln leichter Interesse an demjenigen, was für sie lebensnah und erlebbar vermittelt wird. Diese Erlebbarkeit kann über die Sprache hervorgerufen werden. Dies setzt aber voraus, dass der Lehrende selbst ein Erlebnis davon hat, bevor er über eine Sache zu den Schülern spricht. So ist die sprechkünstlerische Schulung in der Lehrerausbildung auch eine Schulung der Intensität im Erleben.
Dem erzählenden steht das dramatische Sprechen gegenüber. Die Dramatik erfordert eine ganz andere Sprechhaltung. Diese Sprechhaltung finden wir da, wo die Interaktion zwischen Menschen im Vordergrund steht. Das dramatische Sprechen erzeugt im Zuhörer nicht unbedingt Bilder, sondern bewegt ihn zur Identifikation mit den dargestellten Gefühlen oder Willensregungen des Sprechers. Dramatische Sprechqualitäten sind nötig, wenn ein lebendiges Unterrichtsgespräch in Gang kommen soll. Wie die Schauspieler auf der Bühne, müssen Lehrende ihre ganze Aufmerksamkeit und Präsenz auf das gerade aktuelle Geschehen richten. Ein Gespräch entsteht zwischen Ich und Du, von Person zu Person. Dem entsprechend muss im Unterrichtsgespräch nun die eigene Person ins Spiel gebracht werden. Zugleich muss das ehrliche Interesse an der Person des anderen deutlich werden. Dramatik zeichnet sich aus durch das Einfühlen in den anderen, die Möglichkeit, sich zu identifizieren und zu positionieren. Insofern ist das echte Gespräch immer ein dynamisches Geschehen, bei dem die Gesprächspartner sich zunächst auf den Standpunkt des anderen zuhörend einlassen, um dann aus dessen Position heraus die eigene zu finden und auszudrücken. Was dabei entsteht ist immer unerwartet und nicht altbekannt. Unterrichtsgespräche, bei denen die Lehrperson nur Wissen abprüfen will, sind keine Gespräche. Ein Dialog erfordert Initiative und Feingefühl und trägt dann Früchte, wenn aus ihm Neues entsteht und entstehen darf.
Die Lebendigkeit eines Dialoges kann innerhalb der szenischen Arbeit anhand von Theatervorlagen geübt werden. Wie die Partitur eines Musikstückes, geben Textvorlagen im Schauspiel zunächst nur die inhaltliche Orientierung. Was während des Dialogs an innerer Handlung entsteht, das „Wie“ des Dialoges, hängt immer von den augenblicklichen Gegebenheiten ab und wird umso lebendiger, je mehr die Spieler in der Lage sind, sich auf einander einzulassen und zu improvisieren. Die Schauspielarbeit während der Ausbildung gibt den Studierenden zusätzlich die Möglichkeit, das Szenische Spiel als Methode im Unterricht sinnvoll einzusetzen.
Die lyrische Sprechhaltung soll hier ebenfalls Erwähnung finden. Auch sie kann, über die Sprechkunst hinaus, für Lehrer von großem Wert sein. In der lyrischen Sprechhaltung hebt der Sprechende die Gegensätzlichkeit von Ich und Welt auf. Ich wird Welt, die Welt wird Teil des eigenen Wesens. Bedeutsam ist dabei, dass innerhalb dieser lyrischen Weltsicht das Gefühl als Vermittler zwischen Ich und Welt fungieren darf. Erst das Gefühl schafft letztlich die Verbindung des Subjektes mit der Welt. Eine solche Haltung beim Besprechen von Naturerscheinungen immer wieder einzunehmen, ermöglicht den Kindern, Zusammenhänge zu erleben, die beim analysierenden Anschauen außen vor bleiben müssen. Begeisternde Erlebnisse innerhalb der Naturphänomene nicht sofort wissenschaftlich analysierend, sondern gewissermaßen lyrisch zu schildern, bietet den Kindern die Möglichkeit, sich für die Natur zu begeistern und sich mit ihr verbunden zu erleben.
Innerhalb des sprechkünstlerischen Unterrichtes kann der Umgang mit der epischen, dramatischen oder lyrischen Haltung z.B. an einem Gedicht wie Rilkes „Panther“ geübt werden:
Der Panther
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
In der epischen Haltung lehnt sich der Sprecher zurück, betrachtet das Geschehen von außen und beschreibt, was er sieht. Es entsteht eine ‚epische Distanz’, die Anschauung, Übersicht und Bildlichkeit bewirkt. Dabei bleibt der Sprecher durchaus nicht gefühllos. Interesse und innere Anteilnahme wachzuhalten und der dichten Atmosphäre nachzuspüren, wäre hier die innere Aufgabe des Übenden. Aus der an Sprechübungen „technisch“ geschulten guten Artikulation wird jetzt das „Plastizieren mit Lauten“. Das epische Sprechen lässt den Zuhörenden frei. Mitleid mit dem gefangenen Tier entsteht bei den Zuhörenden am eindrücklichen Bild, das für sich selbst sprechen darf. Es wird nicht vom mitleidsvollen Ausdruck des Sprechers angeregt oder hervorgerufen.
Ganz anders ist es, wenn die dramatische Haltung eingenommen wird. Nun darf sich der Sprecher in das Geschehen involviert fühlen und sich deutlich positionieren. Vielleicht ist es Empörung und Anklage gegen die Menschen, die den Panther so wenig artgerecht halten und auf engstem Raum einsperren, oder das tiefe Mitleid mit dem gefangenen Tier, das sich nun in Sprache und Körperhaltung ausdrückt. Als Wirkung wird sich beim Zuhörer mehr das Gefühl, die Haltung des Sprechers einprägen. Mit dieser Haltung wird er sich entweder identifizieren, indem er z.B. in die Empörung einstimmt, oder er wird sich dagegen positionieren und damit vom Sprecher distanzieren. Das Bild des Panthers im Käfig selbst und die damit verbundene Atmosphäre rücken bei diesem lebhaften Geschehen zwischen Sprecher und Zuhörer etwas in den Hintergrund.
In der lyrischen Haltung geht es weder um das plastisch geformte Bild noch um eine wie immer geartete Positionierung zum konkreten Geschehen. Es geht vielmehr um das Erüben und Hervorbringen von Einfühlung. In unserem Beispiel erlebt und gestaltet der Sprecher das Phänomen des „sich gefangen Fühlens“, er taucht ein in die daraus entstehende Atmosphäre und bekommt, wenn Phantasie und Erlebnisfähigkeit ausgebildet sind, das Gefühl, selbst in dieser Situation zu sein, mitzuempfinden, was es heißt, wenn ein „starker Wille“ durch äußere Umstände gelähmt und abgetötet wird.
Anhand der Lyrik lässt sich die Empathiefähigkeit anregen und kultivieren, indem der Übende lernt, auf die eigenen Resonanzen zu lauschen, die echte oder vorgestellte äußere Bilder und Geschehnisse hervorrufen.
Besondere Anforderungen an Waldorflehrer
Sprechwissenschaftler fordern seit langem, dass in das staatliche Lehramtsstudium die Sprecherziehung verpflichtend mit aufgenommen werde. Sie plädieren dabei für einen Umfang von mindestens 2-3 Stunden pro Woche, damit nicht nur Stimm- und Sprechbildung stattfinden, sondern auch rhetorischen Fähigkeiten und der versierte sprecherischen Umgang mit Literatur und Dichtung ausgebildet werden kann. (vgl. Neuber 2007 S.7–12)
Für Waldorflehrer gilt das in gleichem Maße. Hinzu kommen weitere waldorfspezifische Anforderungen. So gibt es im Unterricht der 1.-8. Klasse rhythmische Elemente, indem die Klassenlehrer die Schüler beim Sprechen von Artikulations- und Geläufigkeitsübungen anleiten und altersgemäße, zum Unterrichtsthema passende Dichtung sprechkünstlerisch arbeiten. In den unteren Klassen schließt häufig ein Erzählteil den Unterricht ab (vgl. Richter 2010 S.44). Hier haben die Lehrer die Aufgabe, ein Märchen, eine Fabel, eine Geschichte lebendig und anschaulich zu erzählen und damit die Erlebens- und Phantasiekräfte der Schüler anzuregen. Ab der 9. Klasse wird die Anleitung zu sprachlicher Arbeit von den Oberstufenlehrern übernommen. Von intensiver sprechkünstlerischer Arbeit an Balladen bis hin zum kreativ-erlebenden Umgang mit moderner Lyrik sollen die Schüler angeregt werden, Dichtung als eine erweiterte Ausdrucksmöglichkeit zu erleben, die über das gewohnte Alltagssprechen hinausführt und Gedanken und Erlebnisse auszudrücken vermag, die sich anders nicht ausdrücken ließen.
Sprachgestaltung als verbindliche Lehrveranstaltung
Je nach Studiengang und -Dauer haben die Studierenden an der Freien Hochschule Stuttgart etwa zwei bis vier Jahre lang regelmäßig Sprachgestaltungsunterricht. Dies ermöglicht ein aufeinander aufbauendes Curriculum, bei dem sich die Studierenden in Wissen und Können kontinuierlich weiter entwickeln. Ganz elementar wird zunächst die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit in den Blick genommen und durch körperbezogene Übungen angeregt und geschärft. Hierzu gehört auch die Aufmerksamkeit auf die körperliche Haltung, das Raumverhalten, die Interaktionen miteinander im Raum usw.
Ein experimentierendes und spielerisches Herantasten an die Qualitäten der Vokale und Konsonanten führt zu einem neuen Sprachverständnis im oben genannten Sinne. Die Kräftigung der Stimme, eine stimmschonende und wirksame „Sprechtechnik“ und der variationsreiche Sprechausdruck werden anhand eines umfangreichen Übungskanons geübt und entwickelt. Hier spielt das eigene Engagement eine große Rolle. Die Studierenden lernen, ihren Leib wie ein Instrument zu behandeln, das immer wieder gestimmt und geübt werden muss, um beweglich zu bleiben. Im Laufe ihres Studiums beschäftigen sich die angehenden Waldorflehrer und Lehrerinnen in Theorie und Praxis mit vielfältigen literarischen Erscheinungen, die sie später im Klassenzimmer mit den Schülern sprecherisch erarbeiten können. Sie lernen den professionellen Umgang mit grundlegenden metrischen Formen und üben sich in Rollenarbeit und Szenischem Spiel. So entsteht im Verlauf des Studiums ein reiches literarisches Spektrum und Sicherheit im sprecherischen und methodisch–didaktischen Umgang damit. Ziel der sprachgestalterischen Schulung ist es letztlich, den Grundstein für einen lebenslangen Lernprozess in allen drei genannten Bereichen zu legen: der guten und gesunden Sprechtechnik, der situativ angemessenen Rhetorik und der phantasievoll- ästhetischen Kommunikation.
Literaturnachweis
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